2020. Der Tanz der Stachelschweine


Kunst und Kirche. Magazin für Kritik, Ästhetik und Religion, April 2020

Der Tanz der Stachelschweine

von MARIE KOLKENBROCK

Auf Sigmund Freuds Schreibtisch stand, neben allerlei anderen symbolischen Gegenständen, die kleine Metallfigur eines Stachelschweins. Die Bedeutung dieses Sammlungsstücks wird bei der Lektüre seines Aufsatzes Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) deutlich: „Nach dem berühmten Schopenhauerschen Gleichnis von den frierenden Stachelschweinen verträgt keiner eine allzu intime Annäherung des anderen.“ In der bekannten Parabel Schopenhauers, die Freud hier erwähnt, versucht eine Gruppe Stachelschweine einander zu wärmen, ohne sich gegenseitig durch ihre Stacheln zu verletzen. Wieviel Distanz brauchen wir, um uns voreinander zu schützen? Wieviel Nähe dürfen wir zulassen, um uns gegenseitig Halt und Unterstützung zu geben? In diesen Tagen beschäftigen uns diesen Fragen im wörtlichen, räumlichen Sinne. Aber, wie sowohl Schopenhauers Stachelschwein-Dilemma als auch Freuds Bezug darauf beispielhaft zeigen, spielte die Auslotung von Nähe und Distanz schon lange vor der Pandemie eine fundamentale Rolle für anthropologisch-philosophische und sozial-psychologische Theorien des menschlichen Zusammenlebens. Bei der Überlegung, wie sich die Distanzierungspraktiken, die wir heute kultivieren müssen, auf unser soziales Miteinander auswirken, empfiehlt es sich durchaus, einen Blick auf diese Theorien zu werfen. 

Distanz ist ein Begriff, der untrennbar mit den theoretischen Auseinandersetzungen mit der Moderne in Verbindung steht, wobei seine verschiedenen Bedeutungsebenen differenziert werden müssen: Wie die beiden oben genannten Beispiele von Freud und Schopenhauer bereits zeigen, wird räumliche Distanz oft metaphorisch für die Beschreibung emotionaler Zustände und zwischenmenschlicher Beziehungen verwendet. Darüber hinaus gibt es, insbesondere im englischsprachigen Raum, eine überaus problematische Geschichte des Begriffs als euphemistische Metapher für soziale Ungleichheit und sozial konstruierte Differenz.? Dass diese drei Bedeutungsebenen oft miteinander verschränkt sind, haben wir in diesem Jahr besonders deutlich erfahren: So gab es in den ersten Monaten der Pandemie Anregungen, den Ausdruck des social distancing durch den des physical distancing zu ersetzen. Dies sollte deutlich machen, dass die Bekämpfung des Coronavirus nicht nur die allgemeine Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln, sondern auch in erhöhtem Maße soziale Solidarität erfordert. Nicht nur um zu verhindern, dass die gesellschaftlichen Folgen des social distancing, etwa Einsamkeit und Isolation, ebenso desaströs werden wie das Virus selbst, sondern auch um den sich durch die Pandemie verstärkt zeigenden sozialen Ungerechtigkeiten, etwa in Bezug auf Wohnraum und Zugang zum Gesundheitswesen, entgegenzuwirken. 

Gleichzeitig ist auch die dem Begriff der Distanz innewohnende Ambivalenz deutlich geworden: War er vorher für viele mit Gefühlskälte und fehlender zwischenmenschlicher Verbundenheit assoziiert, so gilt Distanz halten nun auch als ein Zeichen von Fürsorge, Respekt und Solidarität. Diese Ambivalenz spiegelt sich interessanterweise bereits in vielen theoretischen Konzeptualisierungen von Distanz des letzten Jahrhunderts wider. Distanz, so lässt sich grob generalisieren, erscheint einerseits als ein Problem moderner Gesellschaften. Andererseits wird die Kultivierung von Distanz wiederholt als eine Lösung für bestimmte modernespezifische gesellschaftliche Probleme formuliert. Ersteres ist vielleicht intuitiv zunächst weniger überraschend: Individualisierung und Entfremdung sind häufig mit der Moderne in Verbindung gebrachte Schlagworte, die mit dem Verlust von zwischenmenschlicher Nähe und Wärme der Gemeinschaft konnotiert sind. Doch Modernisierungsprozesse werden oft auch mit Gefühlen übermäßiger Nähe und eines einengenden Distanzverlusts beschrieben: Urbanisierung, Vermassung und Industrialisierung generieren Erfahrungen ungewollter Nähe zu fremden Körpern, wobei die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch junge Wissenschaft der Bakteriologie zusätzlich für ein neues Bewusstsein über die mögliche Infektiosität dieser Körper und die Durchlässigkeit der eigenen körperlichen Grenzen sorgte. Neben diesen Erfahrungen körperlicher Nähe lässt sich im zwanzigsten Jahrhundert zudem ideengeschichtlich eine Tendenz feststellen, die die Kultivierung von zwischenmenschlicher und emotionaler Distanz als eine Voraussetzung für ein gut funktionierendes öffentliches Leben artikuliert. Dazu später mehr. Zum besseren Verständnis sei im Folgenden zunächst jeweils ein Beispiel für diese beiden gegenläufigen Interpretationen von Distanz angeführt. 

Wenn Distanz als Problem artikuliert wird, geht es oft um die Frage, wie zwischenmenschliche Solidarität und ein friedvolles Miteinander über geographische und kulturelle Distanz hinweg erreicht werden können. Die Annahme, die diesen Überlegungen zugrunde liegt, ist, dass die Überwindung dieser Distanzen und die Herstellung von zwischenmenschlicher Nähe Voraussetzungen für die Vermeidung von Aggression und Konflikt sind. Ein Beispiel für diese Artder Argumentation aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert ist das Buch Die Biologie des Krieges (1917), das der Physiologe und Arzt Georg Friedrich Nicolai während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte. Sich auf seine Expertise als Naturwissenschaftler berufend, formulierte Nicolai hier eine pazifistische Antwort auf die zu seiner Zeit verbreitete Sozial-Darwinistische These des Krieges als biologischer Notwendigkeit. Einen wichtigen Bestandteil seiner Argumentation bildete das Konzept des Keimplasmas, eine auf den Biologen August Weismann zurückgehende Vererbungstheorie, die heute als ein Vorläufer der Entdeckung der DNA Struktur gilt. Für Nicolai bildete das Keimplasma, das nach dieser Theorie alle Menschen in sich tragen, die biologische Grundlage für zwischenmenschliche Liebe und Verbrüderung. Damit stellte Nicolai Nächstenliebe nicht als ethische oder religiöse Entscheidung, sondern als in der Natur des Menschen liegend dar. Und auf diese Natur galt es sich zu besinnen: „Der [.] Sieg des Keimplasmas über das somatische Plasma, ist der Sieg der Menschheitsidee über das Individualbewußtsein, ist der Sieg des Altruismus über den Egoismus.“ Sind die Menschen also durch ihre körperlichen Grenzen individualisiert und voneinander getrennt, so sind sie gleichzeitig durch das Keimplasma miteinander verbunden. Der im Körper lokalisierte Egoismus schafft demnach die zwischenmenschliche Distanz, die jedoch durch die Besinnung auf das Keimplasma überwunden werden kann. Damit bot Nicolai gewissermaßen eine Verwissenschaftlichung des christlichen Leitprinzips ‚Liebe deinen Nächsten‘ an. 

Der historische Kontext, in dem Nicolais Schrift entstand, in der deutschen Presse und auch gleich zu Beginn des Krieges durch den vom Kaiser ausgerufenen Burgfrieden herauf- beschworen. Nicolais Buch stellt dieses Ideal einer auf Nähe basierenden Gemeinschaft nicht in Frage, sondern versucht vielmehr, ihm die aggressiven und ausschließenden Elemente zu nehmen und die libidinösen Strukturen der Volksgemeinschaft auf die gesamte Menschheit zu übertragen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Nicolais Buch an seinem eigenen Anspruch scheitert: seine Argumentation ist nicht nur ausgesprochen eurozentrisch ausgerichtet, sondern trägt zudem eindeutig kolonialistische – und damit rassistische — Züge. Nicolais Beispiel weist damit bereits darauf hin, dass auf dem Ideal der Nähe und der Überwindung von Distanzen basierende Konzepte der Solidarität dazu tendieren, psychologisch, ethisch und politisch problematisch zu sein, worauf wir im Folgenden noch zurückkommen. 

In der Weimarer Republik erlangt Distanz in verstärktem Maße eine positive Umwertung, wie der Germanist und Kulturtheoretiker Helmut Lethen in seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte (1994) gezeigt hat. Zu den wichtigsten Quellen, auf die sich Lethen beruft, gehört der philosophisch-anthropologische Essay Die Grenzen der Gemeinschaft (1924) von Helmuth Plessner. Im Gegensatz zu Nicolai, der die durch körperliche Trennung erzeugte zwischenmenschliche Distanz zu überwinden suchte, geht es Plessner um die Wahrung der individuellen körperlichen und emotionalen Grenzen. Er propagiert eine für das öffentliche Miteinander notwendige Kultivierung von Distanz, die durch das Anlegen einer schützenden Persona auf der einen Seite und durch die Einhaltung distanzierender Umgangsformen auf der anderen erreicht werden soll. Angestrebt wird eine „virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. |.] Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte und Roheit [sic] [.] durch die Formen der Höflichkeit [.] unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegengewirkt.‘

Konventionen von Respekt, Takt und Höflichkeit sind also Vermittlungsfunktionen, die einerseits die nötige Distanz wahren und ihr andererseits die verletzende Kälte nehmen. Schopenhauers Stachelschwein-Gleichnis nicht unähnlich, ist Plessners Ansatz um den idealen Abstand bemüht, der gegenseitige Verletzung verhindert, aber kollisionslose Kommunikation und Kooperation erlaubt. Durch Maskierung oder Panzerung des Ichs durch seine öffentliche Persona (Plessners Vokabular changiert zwischen schauspielerischen und militaristischen Konnotationen) wird Aggressivität nicht verhindert, sondern ihr wird vielmehr die Angriffsfläche entzogen. Die Öffentlichkeit, die Plessner beschreibt, ist ein antagonistischer Raum, in dem es darum geht, Anerkennung zu erlangen, aber die peinliche Beschämung zu großer Nähe und Selbstpreisgabe zu verhindern. 

Plessners Beschreibung einer Kultur der Schamvermeidung ist sicherlich eng mit der (als beschämend empfundenen) deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem gleichzeitigen Erstarken faschistischer Tendenzen in der Zwischenkriegszeit verbunden.? Doch das von ihm formulierte Ideal einer zwischenmenschlichen Distanz (bzw. die Problematisierung zu großer Nähe) im öffentlichen Raum findet sich in verschiedentlichen Variationen weit über diesen spezifischen historischen und geografischen Kontext hinaus bei einer Vielzahl von Denker_innen und Autor_innen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder.? So schrieb etwa Theodor W. Adorno von einer „Erkrankung des Kontakts“ als einer Begleiterscheinung des modernen Lebens, die sich gerade da- durch einstelle, dass „die Distanzen wegfallen“.! Verbindung und Kooperation sind nach Adorno nur aus einer gewissen Distanz möglich, die Raum lässt für einen nuancierten Diskurs und Differenzen aushält. Auch für Hannah Arendt war die Einhaltung zwischenmenschlicher Distanz eine Voraussetzung für eine funktionierende politische Öffentlichkeit. Im Unterschied zu dem Ideal einer die gesamte Menschheit verbindenden, alle Distanzen und Differenzen überkommenden Liebe, dem wir beispielhaft in Nicolais pazifistischem Text begegnet sind, ist für Arendt die Liebe ein privates, ‚anti-politisches‘ Phänomen, das nicht nur unrealistisch, sondern auch völlig ungeeignet für die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist. Gerade weil Liebe die Distanz zwischen Individuen aufhebt, kann sie keine verbindende Grundlage in einer pluralistischen Gesellschaft bilden. Stattdessen spricht Arendt von Respekt als „einer Art Freundschaft ohne Intimität und Nähe; einer Achtung der anderen Person aus der Distanz heraus, durch die wir in der Welt getrennt sind“. Eine ähnliche Bewertung von Nähe und Distanz im öffentlichen Raum lässt sich auch finden in der Arbeit des Soziologen Richard Sennett, der die Wendung der „Tyrannei der Intimität“ geprägt hat.!? Sennett beklagt damit eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom öffentlichen Leben hin zum Privaten,die miteiner obsessiven Beschäftigung mit dem individuellen Selbst und einem Zerfall des politischen Diskurses einhergehe. Diese Sorge in Bezug auf den Einfall des Privaten ins Öffentliche, der eine Trennung zwischen beiden Bereichen erschwert, teilt Sennett mit Arendt, obwohl er darauf verzichtet, direkt auf sie zu verweisen. In späteren Schriften plädiert er im Einklang mit Plessner, Adorno und Arendt noch deutlicher für die Wichtigkeit einer gewissen Distanzhaltung durch die Kommunikationsform des ‚subjunctive mode‘ im öffentlichen Raum: diese Kommunikationsweise, die sich des indirekten Ausdrucks und der Möglichkeitsform bediene, eröffne einen Raum, in dem „Fremde miteinander verweilen können“.! 

Das Ideal des öffentlichen Raumes als einem Ort der kultivierten Distanz, dem wir in dem obigen schlaglichthaften Abriss begegnet sind, ist nicht unproblematisch.So ist die Forderung nach einem distanziert-gemäßigten Umgang im politischen Raum in vielerlei Hinsicht ein privilegierter Diskurs. Der Vorwurf zu großer Emotionalität, etwa in Bezug auf Wut, ist ein Instrument der herrschenden Klassen, das der Verteidigung der eigenen privilegierten Stellung dient. Wenn etwa die Zusicherung von Solidarität für marginalisierte Individuen oder Gruppen an die Bedingung geknüpft wird, dass diese ihren Protest gegen die ihnen zugefügte Unterdrückung und Gewalt gemäßigt vorbringen, reproduziert das dieselben Unterdrückungsmechanismen. Solange ein Entwurf des öffentlichen Raumes also Distanzhaltung als ideale Form der politischen Interaktion formuliert, aber dabei nicht explizit soziale Ungleichheiten berücksichtigt, muss er im Verdacht stehen, Stabilität über Gerechtigkeit zu stellen. Gleichzeitig kann die Problematisierung von Nähe als Grundlage für ein soziales Miteinander, wie sie die oben diskutierten Denker_innen vornehmen, durchaus Denkimpulse geben, die auch für den gesellschaftlichen Umgang mit der momentanen Pandemie von Relevanz sind. Es ist wichtig zu bemerken, dass Forderungen nach Distanz im öffentlichen Raum, wie sie in den hier besprochenen Theorien formuliert sind, mit gesellschaftlichen Krisenerfahrungen korreliert sind. Sie reagieren dabei kritisch auf ein erhöhtes kollektives Bedürfnis nach Nähe, das sich wiederum seinerseits als Krisensymptom zeigt.

Es erscheint so selbstverständlich wie sinnvoll, dass wir in unsicheren Zeiten zusammenrücken wollen. Gefährlich wird dieses Bedürfnis auf gesellschaftlicher Ebene auch nur, wenn es dazu führt, dass Zugehörigkeit und Solidarität an emotionale Nähe gekoppelt werden. Eine auf emotionaler Nähe basierende Gemeinschaft tendiert dazu, Identifikation vorauszusetzen und Differenz nur in sehr limitierter Form zuzulassen. Die queer-feministische Denkerin SaraAhmed hat dieses politische Narrativ der Nähe so beschrieben: „If only we were closer we would be as one“! Ahmed macht deutlich, dass es sich dabei um eine humanistische Phantasie gesellschaftlicher Liebe handelt, in der von Diskriminierung betroffene Minderheiten, die aus Selbstschutz einen gewissen Abstand zur Dominanzkultur wahren, als Störfaktoren angesehen werden. Das postulierte Ideal gesellschaftlicher Liebe wird damit an die Bedingung des Näherkommens, des Ein- bzw. Unterordnens, der Integration geknüpft. Führt die momentane Pandemie nicht nur im privaten Bereich, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene zu einem krisenhaften Zusammenrücken, ist das natürlich gut, wenn damit eine erhöhte gemeinschaftliche Fürsorge und Solidarität mit den am meisten von der Krise betroffenen Mitgliedern der Gesellschaft gemeint ist. Gefährlich wird es, wenn das durch Verunsicherung und social distancing gesteigerte Bedürfnis nach Nähe von Kräften ausgenutzt wird, die Vorstellungen von gesellschaftlicher Homogenität postulieren und Praktiken der Ausschließung und Diskriminierung legitimieren. Darüber hinaus kann man mit Sennett besorgt sein, dass der Rückzug ins Private, den die notwendigen social distancing Regeln uns auferlegen, zu einer verstärkten politischen Apathie führt, die diesen Kräften wenig entgegenzusetzen hat. Insofern hat das Coronavirus vielleicht eine ohnehin wichtige gesellschaftliche Aufgabe weiter aktualisiert: wie schaffen wir einen politischen und sozialen Raum, in dem wir, in Sennetts Worten, miteinander ‚verweilen‘ können? Einen Raum also, in dem Zugehörigkeit und Solidarität nicht von (räumlicher, sozialer und emotionaler) Nähe bedingt sind?