Chance – Geschäftsbericht 2021
Äußere und innere Territorien. Ein Besuch bei Yvonne Roeb im Pariser Atelier
von CARMELA THIELE
Eigentlich ein traumhafter Ort. Die Cité Internationale des Arts de Paris liegt direkt an der Seine im Zentrum der Stadt. Der lang gestreckte moderne Bau aus den 1960er Jahren kann permanent 240 Maler*innen, Bildhauer*innen, Komponisten*innen, Tänzer*innen und Schriftsteller*innen beherbergen. Dazu kommen weitere 60 Künstler*innen, die in benachbarten Gebäuden und einer Dependance im Stadtteil Montmartre untergebracht sind. Die Cité wurde gegründet, um den internationalen Austausch zwischen den Künsten zu fördern. Die Pandemie jedoch hat alles verändert. Kontakte habe sie noch nicht viele geknüpft, sagt Yvonne Roeb. Das sei ihr bei so hohen Infektionszahlen momentan noch zu riskant. Als aber in einem der Nebengebäude eine Foto-Ausstellung der Cité eröffnet wird, schaut sie dennoch auf ein Glas vorbei.
Die Bildhauerin ist ein Jahr lang Stipendiatin der Hessischen Kulturstiftung in Paris. Die ersten Wochen sind mit der Einrichtung des Ateliers vergangen, mit Orientierung, Materialbeschaffung und ersten Studien. In Kisten lagern modellierte Tonskulpturen zum Trocknen. Die handgroßen Plastiken erinnern an Knochenformen oder Seepocken-Kolonien. Auf einem Regal liegen organische Formen aus Ton, in deren Vertiefung Epoxidharz gegossen ist. In den bereits weiter ausgearbeiteten Brustlandschaften geben gleich mehrere Krater Einblick in einen Innenraum, in dem anatomische Darstellungen aus einem medizinischen Lehrbuch einen konkreten Verweis auf die Organe des menschlichen Körpers geben. Die Funktionen unseres Inneren sind erforscht, dennoch behauptet unser Körper dennoch ein geheimnisvolles Eigenleben.
Die Verwendung unterschiedlicher Materialien spielt im Werk von Yvonne Roeb eine zentrale Rolle. Sie bilden das Habitat ihrer Arbeit, die Voraussetzung, um ihre inneren Bilder zu realisieren. In früheren Skulpturen meinte man, Hummerzangen zu erkennen, denn deren Form und Farbe wirkte täuschend echt. Dabei hatte die Künstlerin sie aus dem Gedächtnis modelliert und farblich angepasst. Die Hummerzangen seien nur eine Metapher für etwas anderes gewesen, erklärt Yvonne Roeb: Genauso wie Tiere in meinem Werk für Menschen stehen, ist die Hummerschere vielleicht erotisch gemeint oder kann für Gefahr stehen. Das changiert, denn die meisten meiner Skulpturen sind erst einmal Ausdruck von einer Empfindung. Alles Weitere kommt später. Gemeint sind Bezüge zur Kunstgeschichte, das Zusammenspiel der verschiedenen Materialien, die Verknüpfung verschiedener gestalterischer Ebenen. Und sie ergänzt: Meine Arbeiten entstehen in einem zuvor nicht absehbaren Prozess, wobei das Bild am Anfang schon immer da ist. Ich unternehme alles, dass die Arbeit am Ende diesem Bild entspricht.
Vom Geländer der oberen Ebene des Bildhauerateliers hängt an einem Seil ein Styroporklotz von der Größe eines Boxerrumpfes herab. Obwohl Yvonne Roeb bislang nur die Ecken abgerundet hat, kommt es einem vor, als habe er da schon immer gehangen. Der Styroporschneider überhitzt sich schnell. Die Arbeit geht nur langsam voran. Aus dem Quader soll ein Passstück zwischen zwei Menschen werden. Die gleichnamige Serie entstand aus Yvonne Roebs Beschäftigung mit Sattelformen, die entsprechend ihrer Funktion eine Verbindung zwischen Pferd und Reiter bilden. Jetzt geht es ihr aber um eine Verbindungsform zwischen zwei menschlichen Körpern. Die Künstlerin beobachtete zu Beginn der Pandemie, wie schwer es den Leuten fiel, aus Infektionsschutzgründen, Distanz zu anderen Personen zu wahren. Das widerspreche der Natur des Menschen, sagt Yvonne Roeb. Für das Paris-Stipendium bewarb sie sich mit einem Projekt, das diesem Thema nachging. Sie erkundete in Collagen Negativformen, Zwischenräume und Pufferzonen, die sich zwischen menschlichen Körperteilen oder individuellen Körpern ergeben. In Paris möchte sie gemeinsam mit Tänzer*innen der Opéra National eine oder sogar mehrere Skulpturen entwickeln, die Bestandteil einer Choreografie werden.
Noch ist offen, wie das Resultat aussehen wird. Erst einmal setze ich mich mit mir und der Form auseinander, sagt Yvonne Roeb, das heißt, ich bin das eine Passstück. Sie gehe von ihrer Körperhaltung aus und überlege, wie ein adäquates Gegenüber aussehen würde. Ich stelle mir die Frage, was der oder die Partner*in tun könnte. Es ist das Sich-Gegenüberstehen, das Phänomen gegenseitiger Anziehung und Abstoßung, was mich interessiert. Bei dieser neuen Arbeit gehe es um einen offenen Prozess, das fertige Bild existiert in diesem Fall nicht, sondern nur eine Anmutung, eine vage Idee von dem, was es am Ende sein soll.
So gut wie sicher ist hingegen, dass die Künstlerin das neue Passstück am Ende mit Leder überziehen wird. Auch weil es sich gut anfühlt, sich an die Form anschmiegt und widerstandsfähig ist. Über einer Kleiderstange hängen Häute in verschiedenen Hautfarben bereit. Parallel arbeitet Yvonne Roeb an anderen Objekten, kleineren Passstücken, den schon erwähnten Tonplastiken oder mit Papier. Sie schneidet Motive aus Modezeitschriften aus und montiert daraus Collagen. Daraus entstehen manchmal Videoclips. Auch in dieser Technik ist sie dem Phänomen der Verschiebung auf der Spur, dem Kippmoment, wenn aus einem bekannten Motiv etwas anderes, etwas Unerwartetes wird, sich Schönheit in etwas Monströses verwandelt. Ähnlich geht sie mit Aktfotografien aus den 1950er Jahren um, die sie auf dem Dachboden ihres Berliner Ateliers fand. Um deren eigentliche Funktion als erotische Bilder zu unterlaufen, erfand sie ein neuartiges Display. Sie besorgte sich einen dreiseitigen Tischaufsteller aus Acrylglas, der eigentlich für Getränkekarten gedacht ist, und schob drei Ansichten derselben, aber immer anders posierenden Frau hinein. Wer das Motiv aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, sieht keine Eva mehr, sondern einen deformierten Körper.
Paris ist eine Stadt der Gegensätze. Vor der Cité kampieren Männer mit oder ohne Zelt auf dem Trottoir. Bei den ersten Sonnenstrahlen ziehen sie mit einem Kaffeebecher in der Hand auf eine Bank in der nahen Grünanlage um. In einer Nebenstraße drängen sich quirlige Jugendliche, die auf den Einlass in die Shoah-Gedenkstätte warten. Wenige Schritte weiter schlendern Touristen an einer Straßenausstellung zu Genoziden im 20. Jahrhundert vorbei. Als wir in Richtung Centre Pompidou unterwegs sind, schauen wir in einer Galerie vorbei, in der ein slovakischer Bildhauer ausstellt. Die regelmäßig schwellenden Formen seiner auf dem Boden liegenden Holzskulpturen erweisen sich als Figuren in Schlafsäcken. Sind es Wanderer, Demonstranten, Obdachlose? Das liegt im Auge des Betrachters oder der Betrachterin, würde Yvonne Roeb sagen. Wir passieren Boutiquen, Cafés und Falafel-Imbisse, historische Gebäude, enge Gassen und Boulevards. Unser Ziel ist das einem Atelier nachempfundene Brancusi-Museum, unweit des riesigen Kulturzentrums. Constantin Brancusi war 1904 aus Rumänien nach Paris gekommen, um das Werk von Auguste Rodin zu studieren. Als der Meister ihn einlud, in seine Werkstatt einzutreten, winkte er ab und entwickelt seine eigene Formensprache. Brancusi erweiterte den Kunstbegriff, indem er den Sockel als Teil der Skulptur auffasste, indem er mit spiegelnden, dematerialisierenden Oberflächen arbeitete, indem er Marmor schwerelos wirken ließ und Holz solide wie Stein. Es war schon lange ihr Wunsch, einmal in Paris zu arbeiten, sagt Yvonne Roeb. Auch wegen Brancusi und Rodin. Die französische Hauptstadt war nicht nur ein Kunstzentrum der Moderne, sondern auch der Hotspot abstrakter Plastik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie schätzt aber auch die Offenheit der Metropole, die belebten Straßen, die Vielfalt der Menschen, ihren Charme, der sich sogar in der Street-Art manifestiert.
Auf dem Flohmarkt entdeckte die Künstlerin mehrere Dekorrollen aus den 1950er Jahren, die übe monochrome Wände gerollt wurden, um den Eindruck von Tapeten hervorzurufen. Sie rollte damit über die transparenten Acrylflächen, welche den erwähnten Aktfotografien als Display dienen. Ich wollte sie anziehen, sagt sie. Also die weiblichen Körper vor zudringlichen Blicken schützen? Nicht nur. Die Bildhauerin schafft mit ihren zwischen Zufall und Kalkül changierenden Techniken neue Zwischenräume, sie organisiert Zonen des Übergangs von innen nach außen und umgekehrt. Um neue Bildverfahren zu erkunden, hält die Künstlerin nach Materialien Ausschau, die nicht nur ihrem Formwillen Widerstand entgegensetzen, sondern einen neuen Aspekt in den Gestaltungsprozess einbringen. Was die 43-Jährige beispielsweise an Leder fasziniert, ist seine feine Struktur und die Tatsache, dass es sich eigentlich um Haut handelt, um eine hochfunktionelle Schicht, die alle Lebewesen schützt und mit der Außenwelt verbindet. Die Haut ist das größte Organ des Menschen, wird aber meist nur als Hülle des Organismus wahrgenommen.
Viele Autor*innen haben das Werk von Yvonne Roeb aufgrund seiner Rätselhaftigkeit mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht. Das hat vielfältige Gründe. Wie die surrealistischen Schriftsteller*innen um André Breton arbeitet sie mit Traumvorstellungen. Wie Max Ernst erfindet sie experimentierend neue Techniken. Wie für Meret Oppenheim und Leonor Fini sind für Yvonne Roeb die Grenzen zwischen Mode und Kunst fließend. Solche Berührungspunkte schwingen ohne direkten Bezug in ihrem Werk mit. Unübersehbar ist auch ihre Faszination für Naturgeschichte, für Pflanzen, für Tiere und Steine, für ihre fantastischen Formen und deren funktionelle Aspekte, ihre vielfältigen Oberflächen und ihre erstaunliche Lebendigkeit. Das Ausschlagegebende ihres Werks sei jedoch ihr Sinn für das Haptische, sagt Yvonne Roeb. Nicht umsonst sei sie Bildhauerin geworden.
Zu diesem Kaleidoskop von Strategien gesellt sich in ihren Skulpturen ein schwer fassbarer Unterton, der um die condition humaine kreist, die widersprüchliche Natur des Menschen. In der Stille des Ateliers treten merkwürdige Dinge zutage, die im Alltag übersehen werden. Der Kaktus auf dem Regal, aus dessen Oberseite ein fächerförmiges Blatt wächst. Das Pferdehaar, das aus einer schmalen Fassung quillt, die auf der weißen Wand neben dem Bad sitzt, als sei das ihr angestammter Platz. Ein Fetisch oder nur das Überbleibsel eines Geigenbogens? „Das Haar steht oftmals für das Rauswachsen, das Von-einem-Stadium-ins-andere-Übergehen“, sagt Yvonne Roeb. Haare stehen für mich für Unordnung. Das Innere und das Äußere würden sich auf diese Weise vernetzen und Prozesse in Gang bringen.
Fotos: Andreas Licht, Paris